Nachhaltigkeit umfassend denken

Sascha Harold

Seit 35 Jahren wird über das Schlagwort der nachhaltigen Entwicklung debattiert - passiert ist jenseits der Debatten zu wenig. Veranstaltungen wie die „Wachstum im Wandel“-Konferenz sollen den Diskurs vorantreiben.


Mehr als 25 Organisationen sind Teil der österreichischen „Wachstum im Wandel Initiative“ (engl.: Growth in Transition), die zum Ziel hat, Fragen von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität zur Diskussion zu stellen. Alle zwei Jahre organisiert die Vereinigung eine internationale Konferenz, die politische und wirtschaftliche EntscheidungsträgerInnen, zivilgesellschaftliche Akteure und WissenschafterInnen vernetzt. Heuer findet die Konferenz unter dem Titel „Europe´s Transformation: Where People Matter“ am 14. und 15. November statt. Etwa 700 Gäste werden erwartet, darunter der Vizepräsident der Europäischen Kommission Frans Timmermanns und die österreichische Umweltministerin Elisabeth Köstinger. Für das IHS wird Senior Researcher Beate Littig an der Veranstaltung teilnehmen, die auch die Forschungsplattform für sozial-ökologische Transformation leitet.

„Ich beschäftige mich seit fast 20 Jahren mit der Frage, wie man aus einer soziologischen Perspektive das Thema der Nachhaltigkeit bearbeiten kann“, so Littig. Zentral ist dabei die Frage, wie hohe Lebensqualität mit einer sozial und ökologisch nachhaltigen und gerechten Entwicklung in Einklang zu bringen ist. Daran knüpft die Frage nach der prinzipiellen Notwendigkeit weiteren Wachstums an: „Viele nationale Ökonomien werden künftig nicht mehr so wachsen können wie bisher. Sollte der hohe Ressourcen- und Naturverbrauch der früh industrialisierten Länder  globaler Standard werden, dann kollabiert das ökologische System“, warnt die Nachhaltigkeitsforscherin.

Europa im Fokus

Das Thema der diesjährigen Konferenz, die im Austria Center Vienna stattfindet, ist neben der nationalen die europäische Dimension der Debatte. Durch die EU-Ratspräsidentschaft Österreichs kommt der Veranstaltung besondere Bedeutung zu. In punkto Nachhaltigkeit ist Europa vor allem durch die Strategie 2020 geprägt. Dabei fokussiert die EU vornehmlich auf ökologieverträgliches Wachstum als Win-Win-Strategie für Umwelt, Wirtschaft und Arbeit sowie auf  regenerative Energie und Ressourceneffizienz. „Die Strategie setzt vor allem auf technologische Innovationen und das Paradigma der grünen Ökonomie“, führt Beate Littig aus, die in diesem Ansatz auch Probleme ortet: „Der Fokus der Diskussion ist stark auf den CO2 Ausstoß fixiert. Frankreich steht dann wegen der vielen Atomkraftwerke gut da; die bringt allerdings andere Probleme mit sich, die ausgeblendet werden“, so die Wissenschafterin. Bei der Förderung der Elektromobilität, die europaweit, aber auch in Österreich Priorität hat, sieht es ähnlich aus. Während der CO2 Ausstoß durch Elektromobilität verringert wird, bleiben andere Probleme wie Feinstaubemissionen durch Reifenabrieb, der Energie und Ressourcenverbrauch für die Produktion von Elektrofahrzeugen oder der hohe Platzverbrauch des individuellen motorisieren Verkehrs weiter bestehen. „Wenn beispielsweise die demografischen Wachstumsprognosen für die Stadt Wien zutreffen, dann geht sich das auch mit Elektroautos nicht aus. Dann wird es sozial innovative Lösungen - etwa Sharingkonzepte -  und eine deutliche Aufwertung von Radfahren und Zufußgehen brauchen, die aber in der verkürzten Diskussion kaum vorkommen“, ergänzt Littig.

Es braucht einen erweiterten Arbeitsbegriff. 

In ihrer akademischen Arbeit analysiert sie vor allem die Verkürzungen, Widersprüche und vielfältigen Deutungen des Nachhaltigkeitsbegriffs. Dabei befasst sie sich insbesondere mit der Zukunft der Arbeitsgesellschaft. „Das  Modell einer monetarisierten Erwerbsarbeitssphäre und einer privaten lebensweltlichen Sphäre, die bei der volkswirtschaftlichen Wohlstandsmessung nicht berücksichtigt wird, ist überholt - es braucht einen erweiterten Arbeitsbegriff, der neben der Erwerbsarbeit auch die nicht bezahlten, und vor allem von Frauen geleisteten Sorgetätigkeiten sowie ehrenamtliches und zivilgesellschaftliches Engagement als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkennt“, so Beate Littig. Das Schlagwort „Prosumententum“ verdeutlicht die Problematik: Immer mehr Tätigkeiten, die früher über Dienstleister abgewickelt wurden, wie etwa das Buchen von Reisen, werden heute durch die KonsumentInnen selbst erledigt. So erodiert die strikte Trennung zwischen privater Lebensführung und Erwerbsarbeitssphäre, während sie im alltagstheoretischen  und sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis aber tiefverankert ist. Nachhaltigkeit ist aber ein Thema, das in allen Lebensbereichen relevant ist und deshalb entsprechend breit gedacht werden muss. Ein Beispiel dafür ist ein dreijähriges Projekt des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds, das das IHS gemeinsam mit der TU Wien und dem österreichischen Institut für Raumplanung (ÖIR) durchführt. Dabei geht es um das Vorhaben der Stadt Wien, bis 2050 bei den Themen Energie, Wohnen und Mobilität emissionsfrei zu werden. Untersucht werden in dem Projekt die Auswirkungen auf Energiesysteme, Stoffströme und letztlich auch auf die Quantität und Qualität von Arbeit. Anhand von Szenarien sollen unterschiedliche Entwicklungspfade in ihren Konsequenzen und Voraussetzungen aufgezeigt werden. Das Konzept nachhaltiger Entwicklung wird durch derartige multidisziplinären Forschungsprojekte und Veranstaltungen wie die „Wachstum im Wandel-Konferenz“ konkretisiert. Für die nahe Zukunft ist es unabdingbar, konsequente konkrete Schritte zur Förderung sozial- und ökologisch verträglicher Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensweisen zu setzten - denn die bisherige Bilanz ist ernüchternd: „Seit 35 Jahren gibt es die nachhaltige Entwicklung als Schlagwort, aus faktischer Sicht ist politisch aber viel zu wenig passiert. Der Ressourcen- und Energieverbrauch steigt, die Erwärmung nimmt weiter zu und die Betroffenheit von Umweltschäden ist global aber auch national höchst ungleich verteilt“, so Littig. Es ist daher auch notwendig, die starren Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und der interessierten Öffentlichkeit aufzubrechen. Es geht darum, Dialog zwischen verschieden Interessengruppen zu fördern, um vorhandenes Wissen mit demokratischen Mitteln in der Praxis wirksam werden zu lassen.

Zur Person

Beate Littig leitet am IHS die Forschungsplattform für sozial-ökologische Transformation und war vor der Umstrukturierung des Hauses zehn Jahre lang Leiterin der Abteilung Soziologie. Im WS 18/19 ist sie zudem Gastprofessorin  an der Humboldt Universität zu Berlin.