No Child left behind? In Zeiten von Corona leichter gesagt als getan!

Autor: Mario Steiner

Die COVID-19-Krise stellt Österreichs Bildungssystem vor eine Ausnahmesituation. Der Unterricht an Schulen ist ausgesetzt und Bildung erfolgt in Form von Home-Schooling, oftmals unterstützt durch digitale Medien. Trotz vereinzelter Vorerfahrungen bringt die Situation große Herausforderungen und komplett neue Rahmenbedingungen für PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern mit sich.


Die COVID-19-Krise stellt Österreichs Schulen vor eine Ausnahmesituation. Der Unterricht an Schulen ist ausgesetzt und Bildung erfolgt in Form von Home-Schooling, oftmals unterstützt durch digitale Medien. War die Digitalisierung von Bildung bisher zögerlich verlaufen, erfolgt jetzt eine flächendeckende Totalumstellung. Trotz vereinzelter Vorerfahrungen bringt die Situation große Herausforderungen und komplett neue Rahmenbedingungen für PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern mit sich. Eine solche Situation bietet einerseits Potenziale für neue Strategien und kreative Lösungen. Andrerseits entstehen viele Fragen. Auf eine möchte ich mich im Folgenden konzentrieren: inwieweit verstärken sich soziale Unterschiede in den Lernleistungen? Die Diskussion darüber hat schon vor COVID-19 begonnen und bezieht sich sowohl auf die Digitalisierung (z.B. Tawfik et al. 2016) als auch die Frage des Einflusses familiärer Ressourcen auf das Bildungsergebnis.

Der Zusammenhang zwischen den kulturellen und materiellen Ressourcen des familiären Hintergrunds und den Lern- und Schulleistungen der Kinder ist weithin bekannt (Boudon 1974, Bourdieu/Passeron 1971). Die soziale Selektivität des Bildungsertrags steigt in dem Ausmaß, mit dem dieser von privater Unterstützung abhängig ist (Maaz et al. 2011). Durch das krisenbedingte Schließen von Schulen findet eine "Privatisierung" der Lernleistung in einem bislang ungekannten Ausmaß statt und es passiert in einem quasi-natürlichen Experiment das Gegenteil von dem, was mit Ganztagsschulen erreicht werden sollte. Kurz vor dem „Corona-Shutdown“ hatte ja die Stadt Wien etwa noch angekündigt, Ganztagsschulplätze gratis zur Verfügung stellen und ausbauen zu wollen.

In der aktuellen Situation besteht nun die Gefahr, dass ein Teil der Kohorte zurückbleibt. Erste Umfrageergebnisse bestätigen, dass es schwierig ist, Kontakt v.a. zu benachteiligten SchülerInnen herzustellen, und dass ein erheblicher Anteil von ihnen nicht erreicht werden kann. Als Auswirkung der aktuellen Krisensituation ist zudem zu erwarten, dass Abbruchszahlen steigen. 2017 lag das Risiko des frühen Bildungsabbruchs bei Jugendlichen, die in einem Drittstaat geboren worden sind, viermal höher als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Und das Risiko, im Alter von 15 Jahren ein (zu) niedriges Kompetenzniveau aufzuweisen (d.h. beispielsweise nicht sinnerfassend lesen zu können) lag 2015 für Jugendliche aus Familien mit geringem sozioökonomischen Status fünf mal so hoch wie bei SchülerInnen aus privilegierten Elternhäusern (Steiner 2019).

Was sind die Herausforderungen für benachteiligte SchülerInnen angesichts Schulschließung und Home-Schoolings? Mit dem Vokabular der Digitalisierung gesprochen geht es sowohl um die Hardware als auch um die Software. Bei der Hardware ist an fehlende materielle Voraussetzungen für e-Learning zu denken. Das reicht von mangelnder Ausstattung mit Tablets, Laptops und Internetverbindungen bis hin zu beengten Wohnverhältnissen, wo an Büros und Kinderzimmer nicht zu denken ist und daher kein Raum für ungestörtes Lernen vorhanden ist. Im Bereich der Software geht es um die mehr denn je notwendige familiäre Unterstützung der Kinder bei der Erbringung der Lernleistung. Eltern übernehmen jetzt große Anteile der Rolle von PädagogInnen, müssen ihre Kinder motivieren, sie anleiten, ihnen Sachverhalte erklären. Das scheitert in benachteiligten Familien zuweilen schon am ausreichenden Sprachverständnis. Damit öffnet sich die Kluft zu anderen SchülerInnen, die diese private Unterstützungsleistung sehr wohl bekommen (können) noch weiter als es unter regulären Schulbedingungen schon der Fall ist.

Die Frage, wie auf die gegebene Situation reagiert werden soll, um dem erwartbaren Effekt einer sich vertiefenden sozialen Kluft entgegenzuwirken, ist offen und ungeklärt. Wenig hilfreich dürfte der (in Österreich beliebte) Defizitdiskurs sein, in dem die Verantwortung wenig motivierten SchülerInnen zugeschrieben wird, und in dem sorglosen Eltern vorgeworfen wird, dass sie es verabsäumen würden, ihren Kindern eine Tagesstruktur vorzugeben. Ausgereifte Konzepte, wie mit den sozialen Herausforderungen der aktuellen Krisensituation umzugehen ist, liegen zwar nicht fertig vor, doch es lässt sich eine einigermaßen plausible Hypothesenbildung vornehmen: Je interaktiver, proaktiver und aufsuchender das pädagogische Konzept sich gestaltet, desto integrativer dürfte seine Wirkung sein. Wenn sich das Home-Schooling aufs Austeilen von Arbeitsblättern beschränkt, die selbständig bearbeitet zum Stichtag hochgeladen und anschließend beurteilt werden, desto mehr (so die Annahme) spielt die familiäre Unterstützungsleistung eine entscheidende Rolle.

In einem vom WWTF geförderten Forschungsprojekt werden wir nun die Lehr- und Lernleistungen sowie die Unterstützung durch das häusliche Umfeld für SchülerInnen der Sekundarstufe I in Wien (NMS, AHS) unter COVID19-Bedingungen untersuchen. Ziel ist nicht nur bekannte Benachteiligungsstrukturen zu analysieren, sondern auch Potentiale und Strategien für Resilienz aufzuzeigen. Durch welches pädagogisch-didaktische Vorgehen beim e-Learning und beim häuslichen Unterricht kann es trotz widriger Rahmenbedingungen gelingen, Benachteiligungen entgegenzuwirken? Das methodische Vorgehen ist triangulär und mehrstufig. Es reicht von qualitativen LehrerInneninterviews über eine flächendeckende Onlineerhebung bis hin zu Familienfallstudien. Die quasi unter Experimentalbedingungen gewonnenen Erkenntnisse zu Resilienzfaktoren und Gelingensbedingungen digitaler Lehr-/Lernstrategien, die eine stärker integrative denn selektive Wirkung entfalten, sollen zur Entwicklung von Konzepten beitragen, die nicht nur das gesellschaftliche Repertoire vergrößern, mit Herausforderungen dieser Art künftig umzugehen, sondern ganz allgemein im schon längst laufenden Prozess der Digitalisierung hilfreich sind, um eine integrative Antwort auf die „Digital Divide“ geben zu können.

Literatur:

Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart.

Boudon, Raymond (1974): Education, opportunity and social inequality, New York.

Maaz, Kai/Baumert, Jürgen/Trautwein, Ulrich (2011): Genese sozialer Ungleichheit im institutionellen Kontext der Schule: Wo entsteht und vergrößert sich soziale Ungleichheit? In: Krüger, Heinz-Hermann/Rabe-Kleberg, Ursula/Kramer, Rolf-Torsten/Budde, Jürgen(Hg): Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. Wiesbaden: Springer. S. 69-102.

Steiner, Mario (2019): Von der Chancengleichheit zur Ausgrenzung: Ein sozialer Fortschritt durch Bildung? Eine theoretische und empirische Aufarbeitung. Internationale Hochschulschriften, Band 667, Waxmann: Münster/New York.

Tawfik, Andrew/ Reeves, Todd/ Stich, Amy (2016): Intended and Unintended Consequences of Educational Technology on Social Inequality. In: TechTrends (2016) 60:598–605.