Industrie 4.0 und Digitalisierung – Szenarien zur Rolle von Bildung

Mit dem technischen Wandel, und vor allem mit der verstärkten „disruptiven“ Digitalisierung hat das Bildungswesen eine neue gesellschaftliche Rolle bekommen. War es über Jahrhunderte darauf ausgerichtet, die Jugend auf die bestehende Gesellschaft vorzubereiten, soll es sie nun zunehmend auf eine zukünftige Gesellschaft vorbereiten, von der allen Beteiligten unklar ist wie sie aussehen wird.

Autor: Lorenz Lassnigg


Nicht nur die ErzieherInnen, auch diejenigen, die sich wissenschaftlich damit beschäftigen, wissen nicht, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen wird. Ein zentrales Schlagwort ist die „Disruption“, - also die Annahme, dass technologische Entwicklungen v.a. im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz und ihren Anwendungen zu grundlegen Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft führen werden, die nicht vorhersehbar sind.

Wissenschaftlichen Ansätze die sich mit diesen zukünftigen Entwicklungen beschäftigen werden Antizipation genannt. Seit der Erkenntnis des Strukturwandels in den 1950ern wurden derartige Ansätze in verschiedenen Formen entwickelt. Zunächst wurden Entwicklungen aus der Vergangenheit fortgeschrieben (rekursive Antizipation), dann wurden Ableitungen aus den bestehenden Strukturen und aktuellen Veränderungstendenzen getätigt (inkursive Antizipation). Da beides bei disruptiven Veränderungen offensichtlich nicht greift, beschäftigt sich man nun mit Ansätzen, die auch erwartete, zukünftige Faktoren einbeziehen (hyperinkursive Antizipation). Dabei spielen vor allem die Erwartungen der (maßgeblichen) AkteurInnen eine wesentliche Rolle. Szenarien sind eine Methode, wie dies bewerkstelligt werden kann.

In einem neu erschienenen Buch zum Thema (siehe Infokasten rechts) werden in einem ersten Schritt Szenarien der Digitalisierung aus der sozialwissenschaftlichen Literatur extrahiert, die ein breites Spektrum an Entwicklungsmöglichkeiten aufspannen. Diese gehen in ihrer Breite und Tiefe weit über die hierzulande im politischen Diskurs meistens betonten Entwicklungen von „Industrie 4.0“ hinaus. In einem zweiten Schritt werden Ableitungen aus diesen Szenarien zu den Anforderungen an das Bildungswesen und die Bildungspolitik zusammengefasst und mit dem Diskurs in Deutschland und Österreich konfrontiert.

Anlass für diese Analysen war der zweifache Unterschied zwischen dem deutschsprachigen und dem US-amerikanischen Diskurs. Im deutschsprachigen Diskurs verweist das Stichwort „Industrie 4.0“ meist auf die Auswirkungen der neuen Formen der Digitalisierung in den bestehenden Unternehmen und Wirtschaftssektoren, teilweise verbunden mit wissenschaftlich unterfütterten „Beruhigungs“-Rhetoriken hinsichtlich der Vernichtung von Arbeitsplätzen. In den USA liegt der Schwerpunkt dagegen auf Disruption und den durch die Digitalisierung neu entstehenden wirtschaftlichen Aktivitäten, verbunden mit neuen Arbeits- und Beschäftigungsformen, sowie auf der Warnung vor möglichen massenhaften Verlusten von Arbeitsplätzen beziehungsweise ihrer Ersetzung durch die neuen Technologien. Auch auf der Ebene der Bildung finden sich unterschiedliche Argumentationsmuster in den Diskursen um Digitalisierung beziehungsweise Industrie 4.0. Auf der einen Seite steht der American exceptionalism mit der (ökonomischen) Betonung der Vorteile und Notwendigkeiten der Tertiarisierung des Bildungswesens (Hochschulexpansion) im „race between education and technology“. Auf der anderen Seite steht die (philosophisch untermauerte) Warnung vor dem „Akademisierungswahn“ und der Zerstörung sowohl der akademischen als auch der beruflichen Bildung durch die Tertiarisierungsbewegung.

Szenarien der Digitalisierung

Im Beitrag wurde eine systematische Literatursuche in der internationalen englischsprachigen Literatur angestellt, um die wissenschaftliche Untermauerung dieser unterschiedlichen Diskurse zu untersuchen. Diese bestätigt, dass Industrie 4.0 einen (quantitativ) kleinen Sonderdiskurs im Vergleich zur Digitalisierung insgesamt darstellt, wobei auch die mediterranen Länder und Australien den Begriff verwenden. In der Suche nach unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen zur Digitalisierung wurden sieben „Szenarien der Digitalisierung“ identifiziert.

  1. Industrie 4.0, Internet of Things: Der Kern des Konzepts besteht darin, dass in der Verbindung von digitalisierter Industrie mit dem Internet neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Herausforderungen entstehen, die zu einer „angesagten Revolution“ verdichtet wurden. Im „Internet der Dinge“ werden Maschinen in die Lage versetzt, untereinander zu kommunizieren. Nach ursprünglich radikalen Thesen zu größeren Netto-Arbeitsplatzverlusten haben Modellrechnungen und Prognosen bald „Entwarnung“ gegeben. Neuere Prognosen für Deutschland ergeben stagnierende Beschäftigung bei hohen Umschichtungen.
  2. Innovation durch kreative Zerstörung / (Neue) Wachstumstheorien: Die Wettbewerbsfähigkeit wird nicht mehr bei den Staaten, sondern bei den (multinationalen) Unternehmen angesiedelt. Das Wachstum der Volkswirtschaft bestimmt sich aus dem Anteil an global wettbewerbsfähigen Unternehmen. Wirtschaftliche Tätigkeiten unterliegen einem Lebenszyklus von Aufstieg und Niedergang, Entwicklung wird durch die Entstehung von Neuem und durch „kreative Zerstörung“ des Alten generiert, Innovation ist der wesentliche Wachstumsfaktor, das „Humankapital“ muss für „radikale Innovation“ sorgen, die ihren Ausgang von der Wissenschaft nimmt, wofür ein „exzellentes“ Wissenschafts- und Universitätssystem ein entscheidender Faktor ist. Weitere entscheidende Faktoren sind institutionelle Flexibilität und ausreichender Kapitalmarkt.
  3. Race between education and technology, Digitalisierung von Tätigkeiten, „American Exceptionalism“: Dieser Ansatz setzt an der Polarisierung der Einkommen zwischen höheren und niederen Qualifikationen in den USA trotz Angebotsexpansion an und erklärt diese damit, dass die technologisch bedingte Qualifikationsnachfrage noch schneller steigt als das Angebot. Die beruflichen Tätigkeiten vermitteln zwischen Bildung und Technologie („Task-Ansatz“), und die Tertiarisierung der Qualifikationen im Hochschulsystem ist für die wirtschaftliche Innovation und als Grundlage für gerechte Verteilung essentiell.
  4. Globale Arbeitsmärkte und multinationale Unternehmen / globale Kommunikation der Eliten: Der erste Teil dieses Szenarios konfrontiert die nationalen Bildungs-Kontexte mit den Praktiken und Strategien globaler Personalrekrutierung seitens multinationaler Unternehmen. Das stark steigende Angebot an höheren Qualifikationen aus den großen Schwellenländern erhöht den globalen Wettbewerb im Bereich der tertiären Bildung, was die Aussichten des Großteils der Absolventen und Absolventinnen in den westlichen Nationen dämpft. Dies steht – teilweise empirisch gestützt – im Gegensatz zu Szenario 3. Der zweite Teil dieses Szenarios sieht die Rolle der tertiären Bildung sowie der Verwissenschaftlichung in der gemeinsamen „universalistischen“ Rationalität die im vergleichsweise einheitlichen Hochschulwesen unter den globalen Eliten geschaffen wird, und weniger in den erworbenen spezialisierten Fähigkeiten. Die Digitalisierung bedingt und ermöglicht diese Entwicklungen.
  5. Innovation, Arbeitsorganisation und der Einfluss von Politik: Dieses stärker politische Szenario einer „learning economy“ kann als Kontrast zum Szenario (2) der kreativen Zerstörung gesehen werden, indem es stärker die Aspekte der Diffusion von Innovation und inkrementeller Innovationen in den Vordergrund rückt (ohne die Bedeutung radikaler Innovation zu leugnen). Die Aufmerksamkeit wird zu den arbeitsorganisatorischen Strukturen gelenkt. Fragen nach der Bedeutung des Produktionssektors für die wirtschaftliche Entwicklung auf nationaler Ebene und nach politischen Gegenprogrammen gegenüber der De-Industrialisierung sind ein wichtiger Bestanteil dieses Szenarios. Im Unterschied zu den hochschulorientierten Szenarien (2) und (3) analysiert die Forschung in diesem Szenario die Rolle unterschiedlicher arbeitsorganisatorischen Strukturen (lean production, Taylorismus etc.) für das (informelle) Lernen in den Betrieben als Basis von Produktivität und Innovation.
  6. Platform economy, neue und unvorhersehbare wirtschaftliche Möglichkeiten aus Internet und Cloud und die Regulierung der neuen Arbeit: Dieses Szenario fragt nach den neuen (wirtschaftlichen) Möglichkeiten, die das Internet im Zusammenspiel mit der „abundant computing power“ aus der Cloud für die Schaffung von Werten und Einkommen bietet und was dies für die Organisation der Arbeit bedeutet. Die Algorithmen sind wesentliche Produktionsmittel in dieser neuen Ökonomie (analog zu den Fabriken in der Industrie), deren Eigentümer profitieren und bestimmen. Die neuen Arbeitsformen fallen aus den traditionellen Mustern regulierter und geschützter Arbeit heraus (Gig-Ökonomie, Prekariat), und neue Formen der sozialen Sicherung und des Schutzes der Beschäftigung halten mit den Entwicklungen nicht Schritt. Das führt zu einer ausgeprägten Ungleichheit zwischen Millionen ZuarbeiterInnen an der Basis, die die Plattformen und Algorithmen im Wesentlichen unentgeltlich mit dem dann kommerzialisierten Informationsmaterial befüllen (und eventuell kleine Seitenzahlungen lukrieren), und den  bekannten Monopol-Firmen mit wenigen Beschäftigten an der Spitze, die die geschaffenen Werte lukrieren und sichere Beschäftigung im traditionellen Sinne schaffen. Dazwischen bewegen sich (kleine) zuarbeitende und vermittelnde „flexible“ Firmen, die ein wenig an der Wertschöpfung teilnehmen, aber meistens von den Monopolisten abhängig sind und in prekarisierten Formen existieren und arbeiten.
  7. Commons based peer production: Dieses am umfassendsten angelegte Szenario konzentriert sich auf die politischen und kulturellen Aspekte der Informationsökonomie. Neben den etablierten Transaktionsregimes des Marktes und des Staates gibt es ein drittes, gemeinwirtschaftliches Regime der „Commons“, das mit der Informationsökonomie spontan wächst und (in diesem Bereich) beiden anderen Regimes an Effizienz und Kreativität überlegen ist. Dieses Regime gemeinwirtschaftlicher Eigentumsrechte setzt sich jedoch nicht einfach evolutionär durch - es tobt vielmehr ein grundlegender Kampf um die Form der institutionellen Ökologie der digitalen Umwelt. Diese Auseinandersetzungen drehen sich um die Durchsetzung der exklusiven Eigentumsrechte der Konzerne und Autoritäten in Bezug auf physische Infrastruktur, logisch-technische Lösungen und Inhalte. Dem gegenüber stehen offene gemeinwirtschaftliche Konzepte wie public domain, open source oder die freie Nutzung der Inhalte.

Aus diesen Szenarien ergeben sich sehr unterschiedliche bis gegensätzliche Antizipationen zur Rolle der Bildung. Die beiden wachstumsökonomischen Szenarien (2) und (3) betonen die tertiäre Bildung und hier den wissenschaftlichen, auf Forschung ausgerichteten (Elite-)Bereich. Ihre empirischen Analysen stüzten sich stark auf der Entwicklung in den USA. Die beiden unternehmens-strategisch und sozialwissenschaftlich orientierten Szenarien (4) und (5) sehen die Tertiarisierung der Bildung eher kritisch. Sie stellen den Umgang der Unternehmen mit den vorhandenen Kompetenzen und Qualifikationen in den Mittelpunkt und betonen einerseits verteilungspolitische Aspekte des positionalen Wettbewerbs im Bildungswesen, andererseits die zentrale Bedeutung der diskretionär-partizipativen Arbeitsorganisation auch in den mittleren und niedrigeren Positionen. In den beiden Digitalisierungsszenarien (6) und (7) spielen Bildungsfragen dagegen kaum eine Rolle. In der inkrementellen bottom-up-Sichtweise der Digitalisierung werden ausreichende Kompetenzen mehr oder weniger vorausgesetzt; gleichzeitig entwickeln sich die Kompetenzen (informell) mit den Aktivitäten. Communities-of-practice werden betont, und für das Bildungswesen wird das Transaktionsregime der „Commons“ dem Markt und Staat gegenüber als überlegen angesehen.


Über den Autor

Lorenz Lassnigg ist Felllow am IHS und spezialisiert sich auf die sozialwissenschaftliche Erforschung von Bildung und Ausbildung.