Europa vermessen - Die Europäische Sozialstudie

Peter Grand

Die Europäische Sozialstudie (ESS) ist eine akademische Umfrageforschung, welche europaweit alle 2 Jahre durchgeführt wird. Dabei werden Einstellungen, Präferenzen und Verhalten der EuropäerInnen erhoben. Seit 2013 ist das IHS für die Umsetzung in Österreich verantwortlich.


An die Umfrage werden besonders hohe Qualitätskriterien gestellt etwa eine strikt zufallsbasierte Stichprobenziehung, das umfangreiche Testen des Fragebogens oder die Durchführung von computerunterstützten face-to-face-Interviews. Die Daten der Europäischen Sozialstudie und deren Dokumentation sind frei erhältlich und können von jeder BürgerIn unter www.europeansocialsurvey.org heruntergeladen werden.

Die Europäische Sozialstudie wird geleitet vom ESS HQ, welches derzeit an der City University in London ist. Das wissenschaftliche Team der ESS (ESS CST „core scientific team“) besteht aus WissenschafterInnen acht verschiedener wissenschaftlicher Institutionen. Dazu gehören neben der City University London:

  • GESIS Deutschland
  • KU Leuven, Belgien
  • Norwegian Centre for Research Data (NSD),Bergen
  • Netherlands Institute for Social Research (SCP)
  • Universität Pompeu Fabra,Spanien
  • Universität Essex,UK
  • Universität Ljubljana, Slowenien

Die Kosten für die Leitung und das „core scientific team“ werden über die Mitgliedsbeiträge der teilnehmenden Länder finanziert. Die Aufgaben dieses wissenschaftlichen Teams sind unter anderem die Qualitätssicherung der Übersetzungen, die Ausarbeitung und Weiterentwicklung des Fragebogens, Datenverarbeitung und das Zurverfügungstellen der verschiedenen Datensätze. Die jeweiligen Mitgliedsstaaten der ESS fördern zudem auch die Teams der Nationalen Koordinatoren, d.h. WissenschafterInnen welche für die Umsetzung und Koordinierung der jeweiligen nationalen Teilstudien zuständig sind. Für Österreich wird die ESS seit der Welle 7 im Jahr 2013 vom Institut für Höhere Studien unter der Leitung von Univ. Prof. Johannes Pollak und Dr. Peter Grand umgesetzt.

Die ESS wird seit 2002 durchgeführt und befindet sich derzeit in der 9. Runde. Im Jahr 2013 wurde der ESS der Status eines European Research Infrastructure Consortium (ERIC) zuerkannt, damit hat die ESS eine eigene europäische Rechtspersönlichkeit als Forschungsinfrastruktur. Seit 2002 haben 36 Länder zumindest einmal an der ESS teilgenommen. An der Runde 9 nehmen 28 Länder teil, damit ist die ESS der ERIC mit der höchsten Anzahl an teilnehmenden Ländern. Die ESS ist aufgrund ihrer methodischen Qualitätsstandards sowie der rigorosen Umsetzung im Sinne hoher qualitativer Übersetzungen und Interviewführung sowie umfangreicher Maßnahmen zur Erhöhung der Ausschöpfungsrate der Maßstab für akademisch orientierte Umfrageforschung im sozialwissenschaftlichen Bereich in Europa geworden.

Zielsetzung der ESS

Die ESS wurde entworfen, um zeitliche Veränderungen in den Einstellungen, Präferenzen und Verhaltensweisen der Menschen in Europa zu erheben. Aus diesem Grund besteht der Fragebogen der ESS aus mehreren Teilen. Es gibt einen Hauptfragebogen, welcher in jeder Runde weitgehend dieselben Fragen enthält und in jeder Runde zwei thematische Module, welche nach mehreren Runden wiederholt werden können. Der Hauptfragebogen wird fortlaufend evaluiert und angepasst, um so den aktuellen Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung zu reflektieren und bestimmte gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie z.B. Veränderungen in der Mediennutzung abzubilden. Die Fragen der thematischen Module werden von Beginn an in Zusammenarbeit mit dem ESS CST entworfen und entwickelt sowie vor Inkludierung in den Fragebogen der ESS getestet. Die Auswahl der thematischen Module erfolgt in einem zweistufigen Verfahren, wobei die eingereichten Vorschläge strengen wissenschaftlichen und methodischen Kriterien genügen müssen. Bisherige Themenbereiche dieser Module waren u.a. Soziale Ursachen von Gesundheit, Einstellungen zu Energieverbrauch und Klimawandel, Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat, Einstellungen zur Demokratie, Präferenzen zur Lebensplanung, Wahrnehmung von sozialer Gerechtigkeit und Fairness.

Europäische Länder sind jederzeit willkommen sich an der ESS zu beteiligen - auch wenn sie noch nie teilgenommen, bzw. eine Runde versäumt haben. Die Inklusion neuer Länder in die ESS erhöht ihren Nutzen für die wissenschaftliche Forschung, liefert Erkenntnisse über Veränderungen in der Gesellschaft und ermöglicht die evidenzbasierte Beratung politischer Entscheidungsträger/innen.

Jedes neue Mitgliedsland reduziert einerseits die Beitragskosten für die anderen teilnehmenden Länder und erhält andererseits eine Stimme in der Generalversammlung der ESS. Dieses Gremium ist die höchste Entscheidungsinstanz innerhalb der ESS. Weitere Gremien sind ein Wissenschaftlichen Beirat (SAB), ein Methodik-Beirat (MAB) und ein Ethik-Beirat (EAB). Diese werden jeweils über Vorschläge der Mitgliedsländer besetzt. Österreich ist in den jeweiligen Gremien stark vertreten: Sylvia Kritzinger ist Mitglied des MAB, Hajo Boomgarden des SAB und Peter Grand, Matthias Reiter-Pázmándy/BMBWF und Georg Reibmayr/BMASGK, sind Mitglieder der Generalversammlung des ESS.

ESS Feldarbeit

Das Procedere der Durchführung einer ESS-Welle folgt immer einem ähnlichen Muster, das in den Generellen Spezifikationen dargelegt und für jedes teilnehmende Land verpflichtend. Zuerst wird ein Grund-Fragebogen in englischer Sprache erstellt. Dieser wird dann in alle Sprachen eines Landes übersetzt, die zumindest von 5% der jeweiligen Bevölkerung gesprochen werden. Bei der Übersetzung wird auch Rücksicht auf nationale Besonderheiten - z.B. im Ausbildungssystem - genommen. Wird der Fragebogen von mehreren Ländern in dieselbe Sprache übersetzt, wie dies in Österreich, der Schweiz und Deutschland der Fall ist, werden die Übersetzungen nochmals verglichen und unter Berücksichtigung nationaler sprachlicher Besonderheiten harmonisiert. In einem weiteren Schritt erfolgt auf Basis umfangreichen Trainingsmaterials die Schulung der InterviewerInnen. Damit soll ein möglichst einheitlicher Interviewablauf in den verschiedenen Ländern sichergestellt werden.

Für die Runde 9 wurden in ganz Österreich knapp 2.500 Interviews durchgeführt.

Die Feldarbeit findet idealerweise zwischen September und Dezember statt, um einen ähnlichen Zeitraum für alle Länder zu ermöglichen. In diesem Zeitrahmen muss eine effektive Interviewanzahl von mindestens 1.500 face-to-face-Interviews absolviert werden, wobei die tatsächlich zu erreichende Stichprobengröße vom Design der Stichprobenziehung abhängt. Dieser sogenannte Designeffekt führt meist zu einer Erhöhung der Stichprobengröße, im Fall von Österreich sind das für die Runde 9 knapp 2.500 Interviews in ganz Österreich.

Nach Abschluss der Feldarbeit beginnt der Datenaufbereitungsprozess durch die Nationalen Koordinatoren, dies umfasst vor allem die Bearbeitung der landesspezifischen Antwortmöglichkeiten bzw. Fragestellungen und deren Umformung in international vergleichbare Kategorien und Kodierungen. Nach diesem Arbeitsschritt erfolgen noch etwaige Datenverarbeitungen um zu gewährleisten, dass die Richtlinien der Datenschutzgrundverordnung erfüllt und die weitgehende Anonymisierung des Datensatzes gewährleistet ist. Danach wird dieser verschlüsselt an das Archiv der ESS übermittelt. Dort erfolgt eine weitere Prüfung des Datensatzes und eventuelle Korrekturen durch die Nationalen Koordinatoren. Sind diese qualitätssichernden Maßnahmen abgeschlossen, erfolgt jeweils im darauffolgenden Oktober die erste Veröffentlichung der kumulativen Datensätze, d.h. die Daten aller rechtzeitig fertig gewordenen Länder. Insgesamt umfasst der gesamte kumulative ESS Datensatz derzeit über 350.000 face-to-face Interviews, diese Daten werden von über 100.000 registrierten BenutzerInnen verwendet.

Die ESS ist eine der erfolgreichsten Europäischen Forschungsinfrastrukturen und damit bestens gerüstet gemeinsam mit anderen Forschungsinfrastrukturen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der großen Herausforderungen Europas einzunehmen und nationale als auch europäische EntscheidungsträgerInnen mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen basierend auf einer hochwertigen Datengrundlage zu unterstützen.

Zum Autor

Peter Grand leitet gemeinsam mit Johannes Pollak die Umsetzung der ESS für Österreich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Europäischer Integration, Sozialpolitik, Vergleichender Politikwissenschaft, Europäisierung und Politikanalyse.