Nach der Pandemie

AutorInnen: Robert Braun, Dagmar Rychnovská

Vor einiger Zeit wurde eine Frau wegen Kopfschmerzen auf dem Flug von Singapur nach Heathrow bei der Landung aus Angst vor dem Coronavirus weggeholt und für 14 Tage unter Quarantäne gestellt. Wie sich herausstellte, war sie jedoch nicht krank, sondern nach einem längeren Zwischenstopp bloß verkatert. Dies ist eine der der harmloseren Geschichten über das Unbehagens, das die Verbreitung des neuartigen Coronavirus (COVID-19) begleitet.


Ausgangssperren und geschlossene Grenzen werden zur neuen Normalität, die Menschen tragen Masken, und die Weltwirtschaft steuert auf eine Rezession zu. Die Maßnahme der Quarantäne, daran sollten wir uns erinnern, stammt aus Zeiten, in denen es keine globale wirtschaftliche und soziale Integration gab und Viren als lebende Organismen noch nicht bekannt waren. Wir müssen darauf vorbereitet sein, was nach den Quarantänen kommt und welche Herausforderungen die Post-Corona-Welt mit sich bringen wird.

Der Soziologe Ulrich Beck wies vor mehr als zwei Jahrzehnten darauf hin: Manche Risiken sind nicht "natürlich", sondern von unserem eigenen sozialen Handeln abhängig. Die Pathogenität und die Übertragbarkeit des Virus sind real. Doch wie wir damit umzugehen, wer dafür wie lange und mit welchen Konsequenzen verantwortlich ist, entscheiden wir selbst. Unter anderem sollten wir darauf achten, durch Gegenmaßnahmen keine unnötigen Sekundärrisiken zu schaffen, die unsere freiheitlich-demokratische Ordnung und den Rechtsstaat gefährden könnten. Wir raten keinesfalls dazu, die mit dieser Epidemie verbundenen Gesundheitsrisiken zu vernachlässigen. Das ändert aber nichts daran, dass ein Großteil der mit dem Coronavirus verbundenen Risiken von uns selbst verursacht werden.

Ignaz Semmelweis, der ungarische Arzt, der das Händewaschen predigte, um die Ausbreitung von Infektionen am Geburtsbett zu verhindern, wurde zu seiner Zeit verspottet und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt.  Zweifellos gilt es den Rat von Dr. Semmelweis zu beherzigen und häufiger die Hände waschen. Entscheidungsträger müssen sich darauf konzentrieren, zusätzliche Behandlungszentren zu eröffnen, um Krankenhausbetten freizumachen und das medizinische Personal sowohl verfahrenstechnisch als auch mit geeigneten Hilfsmitteln vorzubereiten; entsprechend ausgebildete Freiwillige sollten das medizinische Personal bei der Beurteilung, Behandlung und Heilung von Patienten in den betroffenen Zonen unterstützen. Statt überhastetem Aktionismus ist bei Entscheidungen im Zusammenhang mit der Epidemie politische Verantwortung zu übernehmen. Es ist ratsam, (unbeabsichtigte) Folgen zu antizipieren und das Vorsorgeprinzip anzuwenden. Entscheidungen sollten vorausblickend getroffen werden und breiter angelegt sein.

Die Folgen des Virus

Wirtschaftliche Auswirkungen von Schließungen und Ausgangssperren sind erheblich und werden einkommensschwächere Schichten treffen. Neben den wirtschaftlichen Folgen gibt es auch soziale Auswirkungen. Echokammern und Vorurteile werden verstärkt und offene Gesellschaften sind zumindest temporär bedroht: Reiseverbote werden erlassen, Staaten, Städte und Ortschaften geschlossen, Menschen aus bestimmten Regionen werden mit einer Ausgangssperre belegt oder ihnen wird mit Misstrauen begegnet.

Die langfristigen Auswirkungen der so genannten "Versicherheitlichung" könnten jedoch verheerender sein. Der Umgang mit dem Coronavirus öffnet mit im Normalfall undenkbaren politischen (Sicherheits-)Maßnahmen die Büchse der Pandora. Regierungen, insbesondere populistische, werden ihre Muskeln zeigen und sie auch einsetzen. Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzübergängen, Temperatur- und medizinische Kontrollen werden von der Technologieindustrie positiv registriert. Es werden neue, teure Instrumente erforderlich sein, um noch unbekannte medizinische Risiken zu verhindern. (Populistische) Politiker werden auch mit den wachsenden Ängsten gegen potentielle "Andere" spielen, wie es bereits in Italien und anderen europäischen Städten geschieht. Sie werden Maßnahmen vorschlagen, um weitere informationsgetriebene Sicherheitstechnologien zu implementieren: Kameras, Messgeräte und andere Datenerfassungssysteme, auf deren Informationsgrundlage die Steuerung sozialer Interaktionen und der Zugang zu öffentlichen Versorgungseinrichtungen miteinander verbunden werden. Risiken und Krisen beschleunigen Entscheidungen, die ethische Bedenken und Vorsichtsmaßnahmen zugunsten von schnellen Lösungen beiseiteschieben. Diese Lösungen ordnen unsere sozialen Welten auf ungewollte und unerwartete Weise neu. Wenn die Pandemie gestoppt ist, werden Instrumente und Kontrollen sowie große Bestände an auswertbaren Daten bleiben.

Das Vorsorgeprinzip verlangt von uns, dass wir an die komplexen sozialen Auswirkungen denken, bevor wir Maßnahmen ergreifen. Virologen sind auf der Suche nach Impfstoffen, Mathematiker modellieren Ausbreitungswege und Ökonomen berechnen die Auswirkungen auf die Wirtschaft. Sozialwissenschaftler, die komplexe soziale Zusammenhänge erforschen und Erfahrungen mit ihnen haben, sollten auch den Zusammenhang von Technologie und Gesellschaft berücksichtigen. Die nächste Herausforderung wird kommen, wenn die Epidemie vorbei ist und uns bewusst ist, wie schnell unsere Gesellschaften in der Lage sind, unsere Lebensweise umzugestalten. Werden wir diese Erfahrung nutzen, um langfristige Risiken wie den Klimawandel anzugehen, oder werden wir die Angst vor Ausländern und offenen Grenzen noch vertiefen und legitimieren? Welche technologischen Lösungen werden bleiben - diejenigen, die es erlauben, Konferenzen online zu organisieren oder diejenigen, die die staatliche Aufsicht über private Daten zur Verwaltung von Bevölkerungen legitimieren? In einer Krisensituation ist es vernünftig, zu ungewöhnlichen Maßnahmen zu greifen. Vergessen wir nur nicht darauf, die Büchse der Pandora zu schließen, wenn die Bedrohung vorüber ist.